R. Rupert Quaderer-Vogt: Bewegte Zeiten in Liechtenstein 1914 bis 1926

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Titel
Bewegte Zeiten in Liechtenstein 1914 bis 1926.


Autor(en)
Quaderer-Vogt, Rupert
Erschienen
Zürich 2014: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
3 Bände, 776, 675 und 576 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Stefan Frey, Bern

Der Erste Weltkrieg und die unmittelbare Nachkriegszeit waren für Liechtenstein eine Zeit des Umbruchs. Der Kriegsausbruch hatte eine Phase der innenund aussenpolitischen Stabilität und des wirtschaftlichen Aufschwungs jäh beendet. Nach dem Krieg zwang der Zerfall Österreich-Ungarns, mit dem Liechtenstein eng verbunden gewesen war, Fürstenhaus, Regierung und Landtag, wegweisende Entscheidungen zu treffen, die teilweise bis heute nachwirken. Mit dieser zentralen Epoche der jüngeren liechtensteinischen Geschichte beschäftigt sich Rupert Quaderer-Vogt, Forschungsbeauftragter am Liechtenstein-Institut, in einem inhaltlich und an Umfang äusserst gewichtigen Werk, das das Ergebnis einer mehr als zwanzigjährigen Beschäftigung mit dem Thema darstellt.

«Bewegte Zeiten» ist gegliedert in elf Grosskapitel. In Kapitel A umreisst Quaderer-Vogt die Situation am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Die Kapitel B und C beschäftigen sich mit dem Ersten Weltkrieg, wobei die durch den Krieg verursachten Probleme bei der Lebensmittel- und Rohstoffversorgung im Mittelpunkt stehen. Kernstück der Publikation sind die Kapitel D bis G, die die Suche Liechtensteins nach einem Weg aus der Nachkriegskrise schildern. In Kapitel D zeichnet Quaderer-Vogt die Bemühungen Liechtensteins nach, seine Souveränität und Neutralität durch eine eigenständigere Aussenpolitik zu sichern. Diese Bestrebungen waren nur teilweise von Erfolg gekrönt. Liechtenstein erreichte zwar durch die Errichtung von Gesandtschaften in Wien und Bern eine gewisse diplomatische Präsenz. Die Tschechoslowakei zog die liechtensteinische Souveränität jedoch in Zweifel. Sie betrachtete Fürst Johann II. von Liechtenstein als einen österreichischen Untertanen und bezog den umfangreichen tschechoslowakischen Grundbesitz des Fürstenhauses in die 1918 proklamierte Bodenreform ein.

Kapitel E stellt die innenpolitische Entwicklung dar. Nach der Einführungdes direkten Wahlrechts 1918 und dem ersten öffentlich ausgetragenen Wahlkampf formierten sich zwei Parteien, die Christlich-soziale Volkspartei und die Fortschrittliche Bürgerpartei, die sich bald unversöhnlich bekämpften. Die Volkspartei forderte eine demokratischere Ausgestaltung des Staatswesens sowie die Besetzung des Posten des Landesverwesers (des Regierungschefs) mit Liechtensteinern – bis anhin hatten diesen Posten stets Ausländer innegehabt. 1918 wurde der österreichische Landesverweser Leopold von Imhof zum Rücktritt gezwungen. 1919/20 führte die Berufung von Josef Peer, ebenfalls Österreicher, zum Landesverweser zu heftigen Kontroversen. Zu einer Konsolidierung der Lage kam es 1921. Josef Ospelt rückte als erster Einheimischer ins Amt des Regierungschefs auf; eine neue Verfassung definierte Liechtenstein als konstitutionelle Erbmonarchie auf demokratischer und parlamentarischer Grundlage und führte nach schweizerischem Vorbild direktdemokratische Instrumente ein.

In Kapitel F wird die wirtschaftliche und soziale Entwicklung analysiert. Der Staatshaushalt geriet, wie Quaderer-Vogt detailliert aufzeigt, aufgrund rückläufiger Einnahmen sowie dem fortschreitenden Zerfall der österreichischen Krone, die auch in Liechtenstein gesetzliches Zahlungsmittel war, in eine bedrohliche Schieflage. Der Versuch, durch die Ausgabe von Briefmarken neue Einnahmequellen zu erschliessen, endete im Fiasko. Wiederholt gewährte Fürst Johann II. dem Land finanzielle Unterstützungen, was dazu beitrug, dass die Monarchie in Liechtenstein unangefochten blieb. Im Zentrum von Kapitel G steht die Suche Liechtensteins nach einem neuen Bündnispartner. 1919 beschloss der Landtag auf Druck der Volkspartei, den Zoll- und Steuerverein mit Österreich zu kündigen. Nach langen Verhandlungen konnte 1923 ein Zollanschlussvertrag mit der Schweiz abgeschlossen werden. Den damit verbundenen Souveränitätsverlust nahm man in der Hoffnung auf einen wirtschaftlichen Aufschwung in Kauf.

Kapitel H schildert vergleichsweise kurz die wichtigsten Etappen der innenpolitischen Entwicklung vom Wahlsieg der Volkspartei 1922 bis zu den Landtagswahlen 1926. Kapitel I gibt einen Überblick über die kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Thematisiert wird die Rolle der katholischen Kirche, das Schulwesen, die Aktivitäten von sportlichen, kulturellen und geselligen Vereinen sowie unter der Überschrift «Mentalitätsfragen» auch Antisemitismus, Geschlechterrollen und das Verhältnis der Menschen zur Natur. Abgeschlossen wird das Werk durch Kurzbiographien von 16 Männern, die einen bestimmenden Einfluss auf die Entscheidungen in Liechtenstein hatten (Kapitel J), sowie durch einen angesichts des Umfangs des Werks sowie der Vielzahl der darin behandelten Themen zu knappen zusammenfassenden Rückblick (Kapitel H).

«Bewegte Zeiten» ist eine eigentliche Gesamtdarstellung der liechtensteinischen Geschichte während und nach dem Ersten Weltkrieg. Das Werk erschliesst auf weiten Strecken Neuland, behandelt zahlreiche erst unzureichend oder noch gar nicht erforschte Bereiche und beeindruckt durch gewaltige Faktenkenntnisse. Es beruht auf einer äusserst breiten Quellenbasis, die auch bisher unbekanntes, in Privatbesitz überliefertes Material umfasst. Dank einem detaillierten Personen- und Sachregister ist «Bewegte Zeiten» auch als Nachschlagewerk von unschätzbarem Wert. Die Untersuchung ist ansprechend gestaltet und grosszügig bebildert, zudem durch einleitende Texte, die den Hauptkapiteln und den grösseren Unterkapiteln vorangestellt sind, vorbildlich erschlossen. Allerdings dürfte «Bewegte Zeiten» aufgrund seines Umfangs von insgesamt mehr als 2000 Seiten vor allem in Liechtenstein selbst auf Interesse stossen. Wünschenswert wäre die Publikation einer Kurzfassung, die dem Werk einen breiteren Leserkreis verschaffen könnte.

Zitierweise:
Stefan Frey: Rezension zu: Rupert Quaderer-Vogt, Bewegte Zeiten in Liechtenstein 1914 bis 1926, Vaduz: Verlag des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein / Zürich: Chronos Verlag, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 65 Nr. 3, 2015, S. 508-510.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 65 Nr. 3, 2015, S. 508-510.

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